Ist die Integration der Schweiz in das europäische Stromnetz notwendig?

In der Praxis ist eine vollständige Stromautarkie auf Ebene eines kleinen Binnenlandes wie der Schweiz nicht zu verwirklichen. Die Integration der Schweiz in das europäische Stromnetz und ihre Teilnahme am „gekoppelten Markt“ der Europäischen Union (EU) sind zwei zentrale Elemente unserer Energiepolitik sowohl aus ökonomischen Gründen als auch für unsere Versorgungssicherheit.

Die Schweiz importiert und exportiert im Vergleich zu ihrer nationalen Produktion und ihrem nationalen Verbrauch bedeutende Strommengen [→ F66]. Sie ist eine Drehscheibe auf dem EU -Strommarkt, und hat jahrzehntelang vom Stromhandel mit dem Ausland profitiert, was ihr jedes Jahr Milliarden eingebracht hat.

Ausserdem muss die Schweiz in gewissen Jahreszeiten Strom importieren, da sie ihren Bedarf im Winter nicht decken kann. Ebenso muss sie Strom exportieren, weil sie nicht verhindern kann, während der Sommermonate mehr zu produzieren, als sie verbraucht, und die saisonalen Speicher begrenzt sind [→ F75]. Mit dem Ausbau des erneuerbaren Stroms werden sich diese saisonalen Unterschiede noch verstärken und damit die Notwendigkeit eines Austausches mit dem EU-Netz noch erhöhen.

Schliesslich treibt auch die massive Erhöhung des Solarund Windstroms in Richtung einer starken Integration in den EU-Strommarkt. Wenn ein Windkraftwerk plötzlich aufhört, sich zu drehen, weil Windstille herrscht, muss dieser Produktionsverlust sofort durch ein anderes Reservekraftwerk (ein sogenanntes „Regelkraftwerk“) gedeckt werden, damit die Produktion durchgehend dem Verbrauch entspricht [→ F72]. Für jedes installierte MW Solar- und Windstrom braucht es auf lokaler Ebene theoretisch ein MW kontrollierbare Regelenergie (Gaskraftwerk, Pumpspeicherkraftwerk usw.). Diese rasch mobilisierbare Reserve erweist sich als unabdingbar, wenn der Wind nicht bläst oder die Sonne nicht scheint. Ein Regelkraftwerk, das keinen (oder wenig) Strom produziert, kommt natürlich sehr teuer, weil die Investition für seinen Bau nicht durch den Verkauf von Strom rentabel gemacht werden kann.

Aus diesen wirtschaftlichen Gründen wird versucht, möglichst wenig in Regelkraftwerke zu investieren. Eine Möglichkeit zur Lösung dieser Schwierigkeit ist die Integration in das EU-Stromnetz, was aufgrund des viel grösseren Massstabs einen besseren Ausgleich von Produktion und Verbrauch ermöglicht. Die zunehmende Volatilität der Produktion aufgrund von wechselhaften regionalen Wetterereignissen kann auf europäischer Ebene leichter ausgeglichen werden als auf Schweizer Ebene. Der Stromaustausch mittels eines grossen Netzes ermöglicht es Stromunternehmen, durch ein Zusammenspannen auf EU-Ebene die teuren Regelkapazitäten auf einem minimalen Niveau zu halten.

Ausserdem könnte die Schweiz von seiner einzigartigen Pumpspeicherkapazität im Herzen des Kontinents profitieren, um Überschussstrom aus den Windparks in Nordeuropa oder den Photovoltaikanlagen des Mittelmeerbeckens zu speichern [→ F73]. Der Stromspeicherbedarf der EU bis zum Jahr 2050 wird auf etwa 90 GW geschätzt und es gibt nur wenige Optionen für eine gross angelegte Speicherung. Die Schweiz hat also als Batterie Europas einen Trumpf in der Hand. Diese Strategie erfordert aber eine starke Integration des Schweizer Netzes ins EU-Netz, insbesondere eine Anbindung an das in Vorbereitung befindliche kontinentale „Super-Grid“. Der Plan für die Entwicklung des Schweizer Netzes muss also zwingend in den Planungsprozess auf EU-Ebene integriert werden.

Die physische Anbindung des Schweizer Netzes ans EU-Netz genügt aber nicht. Es ist auch zentral, dass die Schweiz am „gekoppelten Markt“ für Strom teilnehmen kann. Im gegenwärtigen Marktsystem sind die Verhandlungen über die Strommengen und jene über die Nutzung des Stromnetzes für die Übertragung dieses Stroms völlig voneinander getrennt. Dieses entkoppelte System ist nicht optimal und führt insbesondere zu einer Unternutzung der grenzüberschreitenden Übertragungskapazitäten und zu bedeutenden Mehrkosten beim Import aufgrund der „Staugebühren“. Die Kopplung der Märkte ermöglicht, eben genau diese zwei Märkte (den Strommarkt und den Übertragungsmarkt) in einen einzigen integrierten Strommarkt zu fusionieren. Dieser Binnenmarkt ist viel effizienter, weil er ermöglicht, die Nutzung der bestehenden Übertragungskapazitäten zu optimieren. Die Schweiz verhandelt derzeit über ihren Zugang zum gekoppelten Markt, der in der EU seit 2008 nach und nach umgesetzt wird – was sich als zentral dafür erweist, auf dem EU-Markt wettbewerbsfähig zu bleiben und gleichzeitig die Investitionen in den Ausbau unserer physischen Übertragungskapazitäten (Strommasten, Hochspannungskabel usw.) zu begrenzen.

Von Seiten der EU wird die Zusammenschaltung mit der Schweiz allerdings nicht mehr als einzige strategische Option betrachtet. So bietet insbesondere die Ausweitung des EU-Netzes in Richtung Osten neue Möglichkeiten. In Bezug auf den Nord-Süd- und den Ost-West-Transit könnten die zukünftigen Stromautobahnen die Schweiz durchaus umgehen und sie so aus dem EU-Markt ausschliessen. Aus technischer Sicht wäre es für die Schweiz möglich, sich vom EU-Netz abzukoppeln (oder abgekoppelt zu werden …). Dies wäre äusserst unrentabel und könnte unsere Versorgungssicherheit gefährden.

Quellen

Banque Mondiale (2019)
(). Consommation d’électricité (KWh par habitant). [ONLINE]. Available at: https://donnees.banquemondiale.org/indicateur/EG.USE.ELEC.KH.PC.
International Energy Agency (IEA) (2018)
(). Key world energy statistics 2018. OECD Publishing.
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