Gibt es auch noch andere Energieszenarien als jene des Bundes?

Für die Energiewende wurden neben den Szenarien des Bundes auch zahlreiche Alternativszenarien vorgeschlagen. Die Wichtigsten sind jene des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen, des Verbandes swisscleantech, der Energie- Agentur der Wirtschaft und der Akademien der Wissenschaften Schweiz, sowie jene der zwei Bundesparlamentarier Rudolf Rechsteiner und Roger Nordmann. Diese verschiedenen Szenarien unterscheiden sich im Wesentlichen in vier Punkten: die geschätzte Höhe des Energieverbrauchs im Jahr 2050, das Tempo des Ausbaus der erneuerbaren Energien, die Rolle der Gaskraftwerke in der Schweiz und die Bedeutung der Stromimporte.

In Bezug auf den Verbrauch wird in allen Szenarien davon ausgegangen, dass der Endenergieverbrauch drastisch zurückgeht, und zwar von heute 250 TW h auf je nach Szenario ca. 116-177 TW h im Jahr 2050 [→ siehe Abb. unten]. Die bedeutenden Unterschiede zwischen den Szenarien resultieren im Wesentlichen aus den verschiedenen verwendeten Hypothesen in Bezug auf die Rahmenbedingungen unserer Energiepolitik und die Unsicherheit bezüglich unserer demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung [→ F9].

Die Unsicherheit in Bezug auf die Entwicklung unseres Stromverbrauchs bis zum Jahr 2050 ist ebenfalls sehr gross. Wenn man die beiden extremsten Szenarien betrachtet, so rechnet das eine mit einem Rückgang unseres Stromverbrauchs um ein Drittel, von heute fast 60 TWh auf 41, während das andere von einer Steigerung um 50% auf 90 TWh ausgeht [→ siehe Abb. unten]. Aufgrund einer gewissen Anzahl spezifischer Unsicherheiten des Stromsektors ist es ein grosses Wagnis, diesbezügliche Prognosen zu erstellen. Unsicherheiten bestehen insbesondere bezüglich der Entwicklung der Elektromobilität, der Durchdringungsrate (Marktpenetration) der Wärmepumpen, der Bedeutung der Pumpspeicherung und dem Verbesserungsgrad der Energieeffizienz von Motoren und elektrischen Antrieben [→ F34].

In Bezug auf die zukünftige Sicherstellung der Energienachfrage besteht ein breiter Konsens darüber, dass die Energieeffizienz und die erneuerbaren Energien die Hauptbestandteile unseres zukünftigen Energiesystems darstellen und unser nationales Potenzial genutzt werden sollte. Die Szenarien unterscheiden sich im Wesentlichen einerseits in Bezug auf das realisierbare Potenzial der Solar- und Windenergie und andererseits in Bezug auf das Tempo der Umsetzung dieser Technologien.

Der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE ) geht davon aus, dass in den nächsten Jahren nur ein mässiger Ausbau der Solarstromerzeugung erfolgen wird und dass bis 2035 nicht mehr als 1 bis 2 TWh mit Photovoltaik produziert werden, während wir wahrscheinlich bereits 1 TWh überschritten im Jahr 2015! Der Bund ist ein wenig optimistischer und geht von 2-4 TWh im Jahr 2035 aus – bei einem auf 12 TWh geschätzten Potenzial. Auf Seite der Optimisten schätzt Roger Nordmann, dass im Jahr 2035 7 TW h Solarstrom produziert werden könnten und der Verband swisscleantech spricht von 14 TWh im selben Jahr. Schliesslich sieht Rudolf Rechsteiner in seinem Szenario „solar & effizient“ sogar vor, dass das gesamte technische Potenzial der Solarenergie (25 TWh) bis zu diesem Zeitpunkt genutzt werden könnte. Die beiden Extremszenarios unterscheiden sich also allein im Bereich Solarenergie um 24 TWh. Wenn man die 6 TWh Unsicherheit bzgl. der Windenergie hinzurechnet, kommt man in Bezug auf den erneuerbaren Strom bis zum Jahr 2035 auf mehr als 30 TWh Unsicherheit, d. h. etwa 50% unseres derzeitigen Jahresverbrauchs!

Diese unterschiedlichen Einschätzungen des Potenzials und der Ausbaumöglichkeiten der Solar- und Windenergie führen zu merklichen Unterschieden bei der Bezifferung unserer Stromunterproduktion im Zusammenhang mit der Stilllegung unserer Kernkraftwerke. Je nach betrachtetem Szenario variiert dieses Defizit zwischen 5 und 22 TWh im Jahr 2035 und müsste entweder durch den Bau von Gaskraftwerken (oder mit Erdgas betriebenen Wärmekraftkopplungsanlagen) oder durch Stromimporte aus dem Ausland gedeckt werden. Die Anzahl der geplanten Gaskraftwerke (mit je 400 MW Leistung) schwankt je nach Szenario zwischen 0 und 9.

Allgemein ist es so: Je weniger Gaskraftwerke in den Szenarien vorgesehen sind, desto grösser ist die Stromimportabhängigkeit. Dies zeigt auf, welche Unsicherheit in Bezug auf das Substitutionspotenzial der erneuerbaren Energien für die kurz- und mittelfristige Stromerzeugung besteht. Während der Bund unsere Importe auf 4 bis 9 TWh im Jahr 2035 begrenzen möchte und im Jahr 2050 keine Importe mehr vorsieht, setzen die Szenarien des VES und von Rudolf Rechsteiner auf massive Importe: zwischen 18 und 22 TWh, d. h. etwa ein Drittel unseres derzeitigen Stromverbrauchs. Nur Prof. Gunziger von der ETH Zürich präsentiert ein Szenario, bei dem sich erneuerbare Energiequellen und saisonale Speicherung ergänzen und so die winterliche Stromlücke fast vollständig durch lokale erneuerbare Ressourcen geschlossen werden kann [→ F75].

Zusammengefasst nutzen alle unterschiedlichen Szenarien die zwei gleichen Bausteine für die Stromversorgung: Energieeffizienz (um den Verbrauchszuwachs in den Griff zu bekommen) und erneuerbare Energien. Allerdings gewichten sie die Bausteine unterschiedlich und führen deswegen manchmal zu sehr verschiedenen Visionen und Schlussfolgerungen, insbesondere in Bezug auf die mittelfristige Bedeutung von Gaskraftwerken und Importen.

Quellen

Association des entreprises électriques suisses (VSE/AES) (2012)
(). Electricité photovoltaïque et solaire thermique.
Barmettler, Franziska and Beglinger, Nick and Zeyer, Christian (2013)
(). Cleantech energiestrategie - richtig rechnen und wirtschaftlich profitieren, auf CO2-Zielkurs. swisscleantech.
Guzinger, A. (Supercomputing Systems AG) (2013)
(). SCS energiemodell simulation der elektrischen energieversorgungder schweizanhandvon konfigurierbaren szenarien.
Nordmann (2013)
(). Le solaire et la stratégie énergétique 2050 - état des lieux (presented at the Formation Solateur).
Office fédéral de l'énergie (OFEN) (2018)
(). Statistique suisse de l’électricité 2018. OFEN.
Office fédéral de l'énergie (OFEN) (2013)
(). Perspectives énergétiques 2050.
Office fédéral de l'énergie (OFEN) (2019)
(). Statistique globale de l’énergie 2018. OFEN.
Rechsteiner, Rudolf (2012)
(). 100% renouvelable - Réussir la transition énergétique vers des énergies propres et accessibles à tous.
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